Straßburg und der Sturm und Drang
Zwischen der Messestadt Frankfurt im Norden und Zürich, dem weit ausstrahlenden geistigen Zentrum im Süden entwickelt sich Straßburg in der Zeit zwischen 1770 und 1776 zum Brennpunkt der jungen literarischen Bewegung des Sturm und Drang. Die Universität, deren medizinische und juristische Fakultäten einen ausgezeichneten Ruf besitzen, zieht zahlreiche junge Gelehrte an. Überdies ist Straßburg umgeben von einer Reihe von Fürstenhöfen, die durch ihre kulturellen Aktivitäten das Interesse der Gebildeten auf sich ziehen.
Als die Geburtsstunde des Sturm und Drang wird gemeinhin die Begegnung von Goethe und Herder am 5. Oktober 1770 in Straßburg angesehen. Der um fünf Jahre ältere Herder hält sich in Straßburg auf, um ein Augenleiden zu kurieren; Goethe will sein Studium in Straßburg weiterführen. Daneben ist am Mittagstisch bei den Schwestern Lauth ein Kreis von etwa zehn jungen Gelehrten versammelt - unter ihnen Goethe, der Jurist Johann Daniel Salzmann, der Theologe Franz Christian Lerse, der Mediziner und später als Augenarzt bekanntgewordene Heinrich Jung-Stilling -, in dem sich ein reger geistiger Austausch entwickelt.
Angeregt von Edward Youngs "Gedanken über die Originalwerke" und der in England stattfindenden Diskussion um die Bewertung des Genies beschäftigen sich Goethe und Herder mit dem Gedanken, das Ursprunglich-Schöpferische als Naturgabe aufzufassen. Damit treten sie der rationalistisch-aufklärerischen Vorstellung, das Schöpferische könne allein nach Verstandesregeln funktionieren, entschieden entgegen. Phantasie, Gefühl, Leidenschaft und Spontaneität sollen von nun an für die neue Kunst proklamiert werden. Aus dieser Zeit stammen Goethes Schrift "Von deutscher Baukunst", ein hymnischer Prosatext auf das Straßburger Münster, der die Wiederentdeckung der gotischen Architektur im deutschen Sprachraum einleitet, seine Rede "Zum Schäkespears Tag" und die Vorstudien zu seinem Sturm und Drang-Drama "Götz von Berlichingen".

Nach der Abreise von Herder im April und Goethe im August 1771 findet die Sturm und Drang-Periode kein abruptes Ende, sondern wird weitergetragen von dem Kreis um Johann Daniel Salzmann, dem im Mai auch Jakob Michael Reinhold Lenz beitritt. Die Begegnung mit Goethe und der sich anschließende Briefwechsel berührt Lenz und regt seine literarische Produktion an. So beendet er im Oktober 1772 die Arbeit an seiner Komödie "Der Hofmeister oder Vorteile der Privaterziehung"; 1774 erscheinen seine "Anmerkungen übers Theater", eine Abrechnung mit der aristotelischen Traditon des Dramas und ein Bekenntnis zu Shakespeare; im Sommer 1775 schließt er seine Komödie "Die Soldaten" ab, die stark von seinen eigenen Straßburger Erfahrungen geprägt ist. Indirekt mit der Straßburger Sturm und Drang-Bewegung verbunden sind Johann Heinrich Merck und Johann Georg Schlosser, die durch die Herausgabe der "Frankfurter Gelehrten Anzeigen" ab 1772 der Bewegung ein Sprachrohr bieten.